Der schmale Mann hatte in der Aufregung den Akzent seines südöstlichen Landes
noch verschärft. Er musste seine Geschichte erzählen. Vielleicht würde ein wenig
Exotik ihm helfen, sich in Deutschland besser zu verkaufen. Das glaubt nun wirklich
niemand. Mein Land hat an einer Co-Produktion mit Ihrem Sender größtes Interesse,
weil das Land zu klein ist, um irgendetwas selber produzieren zu können,
egal was, und weil uns immer andere sagen müssen, wo’s langgeht und wen wir
wählen dürfen, denn wir finden vor lauter Bergen oft den Weg nicht mehr. Ja, ja,
dauernd auf der Suche, sich irgendwo dranzuhängen. Erst hinterher schauen, wo
wir angekommen sind, wenn der Zug schon lange fährt. Das kennen wir! Das südöstliche
Land habe keine Menschen, die sich fürs Fernsehn in container sperren
lassen würden, nein, Moment, ich sehe, es hat sie doch. Die Leute sind aber nicht
sehr interessant, deswegen müssen wir ja Ausländer in die container hineintun,
am besten noch am Flughafen, wenn die Leute grade erst angekommen sind und
noch nicht sagen können, wie es ihnen bei uns gefällt. Sie werden uns aber schon
noch kennen lernen, sagte der kleine dünne Mann zur Maskenbildnerin, die ihn
fasziniert zu verfolgen schien. So ein Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Aber auch
die Leute bei uns wollen fernsehen, sprach der Mann noch, wie zu sich selbst, es
sträubten sich ihm eine Weile die Haare bei dieser Vorstellung, denn die Menschen
bei ihm zu Hause schienen zu handeln, als wären sie ohnedies die ganze Zeit im Fernsehen.
Man sieht sie, aber was sie in Wirklichkeit machen, das sieht man nicht.
Wie bei dem dicken weltberühmten Politiker, nein, dem anderen, früheren.
Sogar die Bösewichte dort in der Ferne sind so klein, dass sie im Ganzen in den Apparat
hineingehen, sozusagen in ihrer natürlichen Größe, also sie sind halt einfach nicht
sehr groß, plustern sich aber gerne auf. Das wollte ich damit sagen.
aus: Elfriede Jelinek: Unternehmen Dünner Mann . In: taz, 21.10.2000.
Der Text erschien als drittes Kapitel des Fortsetzungsromans Die Untersuchung oder der Untergang des Hauses Kohl. Der Roman, von dem die Nation spricht in der
taz
. Die ersten fünf Kapitel wurden in der Rubrik Literataz am 21.10.2000 veröffentlicht. AutorInnen dieser fünf Kapitel waren
Elke Schmitter
,
Georg M. Oswald
, Elfriede Jelinek und
Hanns-Josef Ortheil
.
Hans Magnus Enzensberger
schrieb als Gastbeitrag ein Gedicht. Die folgenden Kapitel erschienen jeweils einzeln im Kulturteil, die letzte Folge am 23.12.2000. Autoren dieser Beiträge waren
Klaus Modick
,
Tilman Spengler
,
Wolfgang Müller
,
Jochen Schmid
,
David Wagner
,
Franzobel
und
Joseph von Westphalen
. Im Anschluss erschienen alle Folgen zusammen in einem Heftchen.
Thema des
taz
-Romans sind die satirische Aufbereitung der CDU-Spendenaffäre und deren Darstellung in deutschen TV- und Printformaten. In Jelineks Beitrag tritt neben karikierten Figuren aus Deutschlands (
Deutschland
) Medien- und Politlandschaft (
Medien
,
Politik
) auch ein „kleiner schmaler Mann“ aus einem „südöstlichen Land“ auf, der Züge des österreichischen (
Österreich
) Politikers
Wolfgang Schüssel
hat.