Alle Kinder haben Tiere gern. Alle Kinder lernen, daß man Tiere gern haben muß. Man muß Tiere gern haben, weil sie lieb sind. Ein liebes Kind hat Tiere immer lieb. Tiere sind lieb. Auch Kinder sind lieb. Viele Erwachsene finden Kinder lieb. Franz ist ein Kind, daher ist Franz lieb. Die Erwachsenen finden Franz lieb, weil er auch noch ein braves Kind ist. Sie sagen oft, manchmal ganz ohne Grund: Franz, du bist lieb. Oder auch: Franz, sei so lieb und hol mir ein halbes Kilo Mehl und eine Rama und einen Salat (einen Kopf Salat) oder auch eine Schachtel Zigaretten für Vati oder einen weißen Zwirn für Mutti oder weiß der Teufel was noch. Wenn Franz dann das Mehl, die Rama, den Salat, die Zigaretten und den Teufel was noch geholt hat, sagen sie: Brav, Franz, du bist ein lieber Franz, Vati hat große Freude, bzw. (be-zie-hungs-wei-se) Mutti hat große Freude an dir. Oft muß Franz Sätze aufschreiben für die Schule. [...]
Wenn draußen z. B. (zum Beispiel) Nebel ist, dann sieht Franz zu, wie die Dinge darin verschwinden, nämlich die Autos, die Häuser, die Fabriken, die Leute, manchmal sogar Katzen, Hunde, Kaninchen, Mäuse, Käfer und Marienkäfer.
Heute allerdings ist überhaupt kein Nebel. Trotzdem sagt die gute Mutter, die gar nicht zum Fenster rausgekuckt hat: Franz, willst du nicht zur Übung schöne Sätze über den Nebel schreiben? Die Frau Lehrerin freut sich sicher, wenn du ein fleißiges Kind bist.
Sagst du dann auch, daß ich brav bin? fragt Franz. Ja, sagt die Mutter, aber zuerst machst du schön deine Sätze über den Nebel. Also beginnt Franz (und schreibt’s auch gleich hin, damit er’s auch bestimmt nicht vergißt): Im Nebel verschwinden Häuser. Im Nebel verschwinden Katzen. Im Nebel verschwinden Hunde. Im Nebel verschwinden Käfer. Im Nebel verschwinden...
Goldhamster natürlich nicht! Wo kämen wir denn da hin? sagt da plötzlich eine laute, kräftige Stimme hinter ihm.
Franz, der brave, dreht sich natürlich ganz schnell um. Diese Stimme hat so erwachsen geklungen, gar nicht nach etwas, das es nicht gibt, sondern nach etwas, das es sehr wohl gibt und das auch noch reichlich groß ist. Und wirklich, was er da sieht, verschlägt ihm die Sprache. Franz sieht einen unheimlich fetten Hamster auf seinem unheimlich fetten Hamsterhinterteil sitzen. Der Hamster hat eine Schibrille auf der Nase. Er hat warme rotkarierte Ohrenschützer über den Ohren und eine blaukarierte Gangsterkappe schräg auf dem Kopf. Seine kleinen Hamsterhinterpfoten stecken in wasserdichten Schneeschuhen drin, die Vorderpfoten haben warme Fäustlinge übergestülpt. Außerdem hat er einen Rollkragenpullover an. Der Hamster ist das liebe Tier, das in vielen Geschichten vorkommt. Bloß, er ist unheimlich verfressen.
aus: Elfriede Jelinek: Der brave Franz ist brav. In: Loschütz, Gert (Hg.): Das Einhorn sagt zum Zweihorn. 42 Schriftsteller schreiben für Kinder. Köln: Gertraud Middelhauve Verlag 1974, S. 126-135, 126-127. (Beginn)
Für diesen Band wurden SchriftstellerInnen, die bis dahin kaum als KinderbuchautorInnen in Erscheinung getreten waren, gebeten, Texte für Kinder zu verfassen. Mehr als 40 AutorInnen beteiligten sich an dieser Anthologie, darunter
Thomas Bernhard
,
Peter Bichsel
,
Wolf Biermann
,
Peter O. Chotjewitz
,
Barbara Frischmuth
,
Ernst Jandl
,
Gert Jonke
,
Friederike Mayröcker
und
Michael Scharang
. Die Hauptfiguren dieser Kurzgeschichte sind Franz und ein Hamster (
Tiere
). Franz bemüht sich, ein braves Kind zu sein, bis ein verfressener Hamster in sein Leben tritt. Der Hamster vertilgt Franz’ Bücher und hustet sie wieder aus, was zur Folge hat, dass Figuren und Gegenstände aus den Büchern im Zimmer auftauchen. Dabei werden Benimmregeln für Kinder in Frage gestellt und außer Kraft gesetzt und gesellschaftliche Machtverhältnisse (
Gesellschaft
) verkehrt.