Bruder
sie sei alles was du willst
ABER sie hat eine Spalte
zwischen ihren Beinen genau wie deine Mutter
aber
wenn es schon so schlimm ist
und du hast Lust auszuspucken
spuck aus
...ich hab ja nur so geredet, Freund
und nun rede ich mit dir, Hure;
ich möchte
mit einem einzigen Erdbeben meines Körpers
das Gebäude deines Geschlechts zum Einsturz bringen
dir alles abreißen
bis eine bloße Ruine Frau-Hure übrigbleibt
bis nichts mehr als
Staub auf Staub von dir bleibt
zur Geschichte deines Lebens im Orgasmus!
und
in einem einzigen Manns-Akt
für immer deinen Namen
zwischen den roten Laternen deiner „Zone“ auslöschen
und dann mit einer verzweifelnden Kleinkinder-Geste
dir von den Wurzeln her
alle Tränen deines Weltkarten-Schoßes trocknen
dir dann dein Geld zahlen –
dich Schein um Schein bezahlen
dich bezahlen, damit DEIN Kind auf die Welt kommen kann
mir daraufhin die Hosen anziehen
vor dem Spiegel deines Zimmers
als ob meine Mutter keine Frau wär
und vor dem Weggehen
noch alle meine Sachen einsammeln:
die vom Schweiß zerbrochenen Knöpfe
die mir in die Pfütze
deines Nabels gefallen sind
die Bruchstücke meines Namens, die in deinem Leib gestockt
sind
und all die schmutzigen Tücher unter dem Polster:
der letzte deiner Besatzer sein
beim Verlassen
des Territoriums deines Körpers –
und ihn dir rein zurücklassen:
der ganze Abfall
der deinen Namen bedeckt hat
liegt nun völlig in Schutt und Asche
und dort
wo der meiste Samen hingefallen ist
in deinen 170
57 kg
89-69-93
möge Gott seinen Tempel bauen...
und bevor ich für immer & einen Tag gehe
dir zur Erinnerung
diese Bibel lassen
angestrichen und die Ecke umgebogen
da gibts eine gewisse Stelle
im Evangelium des heiligen Johannes
Kapitel 8 Vers 7.
Carlos Rigby
, geboren 1945 in Laguna de Perlas bei Bluefields als Angehöriger der schwarzen Bevölkerungsminderheit, weigerte sich lange Zeit, seine Texte zu publizieren, und wurde vor allem durch seine Auftritte und die Lesungen seiner Gedichte bekannt.
Jelineks Übersetzung von
Carlos Rigbys
Gedicht Lágrimas por una puta erschien 1986 in der zweisprachigen Anthologie Unter dem Flammenbaum . Die Anthologie versammelt neben den Werken renommierter SchriftstellerInnen aus Nicaragua auch im Rahmen von Dichterwerkstätten entstandene Gedichte. Jelinek erstellte die Übersetzung auf Basis von Vorarbeiten des Journalisten
Werner Hörtner
. Das Gedicht ist als Anrede an ein als „Bruder“ und ein als „Hure“ bezeichnetes „Du“ konzipiert und thematisiert weibliche
Prostitution
und männliche
Gewalt
, wobei auf die Passage „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Joh. 8,7) aus dem Johannesevangelium angespielt wird. Der Sprachrhythmus, die Satzkonstruktionen und die unterschiedlichen Einrückungen der einzelnen Verszeilen wurden in der Übersetzung beibehalten.