Was erfährt man im Stillstand? Das, was man von seinem Standort aus ringsherum sehen kann? Das, was man schon weiß? Kann man es sagen, wenn man nicht mehr vom Fleck kommt? Wenn es keinen Ausweg aus dem Stillstand gibt, kann man höchstens noch das Vergessen erfahren, aber darüber hat man keine Gewalt. Macht hat man sowieso keine. Ist der Stillstand schon ein Nach-Hause-Kommen? Ist man angekommen, oder kann man noch hoffen wegzukommen? Ich glaube, gerade in diesem Stillstehen, aus dem heraus ich schreibe, sind da vielleicht Wurzeln, die mich auf und an der Stelle festhalten, wie sie jeder merkt, wenn er versucht, von dem Ort wegzukommen, den er sein Zuhause nennt. Die „Winterreise“, die ich früher oft begleitet habe – ich glaube, kein Werk der Kunst hat mir je mehr bedeutet – aber was sage ich da?, ich hätte eine Reise begleitet, die schon aus Prinzip immer unbegleitet sein muß?, ich habe sie natürlich bloß auf dem Klavier begleitet, die „Winterreise“ Wilhelm Müller/Franz Schuberts also ist ja ein Werk der Heimatlosigkeit, aus der man nicht aufbricht und in die man nicht zurückkehrt.
aus: Elfriede Jelinek: Fremd bin ich . In: Theater heute 8/2011, S. 60-61, S. 60.
Dankesrede zur Verleihung des
Mülheimer Dramatikerpreises
2011; bei der Preisverleihung in Mülheim am 26.6.2011 wurde die Dankesrede, von Jelinek gelesen, per Video eingespielt; über das Leben und Sprechen „im Stillstand“ und
Schuberts
Winterreise im Kontext ihres Theatertextes
Winterreise
(2011), der den „eigenen Stillstand in Worten des Wanderers zu fassen“ versuche (
Theaterästhetik
).