Mama, ja du dort in der Ewigkeit, aber hallo, so ein Wort würde ich nie von dir empfangen! Sicher hast du die dort oben schon ordentlich aufgemischt, und Engel strecken jetzt ihre Füße vor, um sie abmessen zu lassen, obwohl sie Schuhe gar nicht brauchen. Du hast sie überzeugt. Wieso soll ich dich überhaupt anrufen?, du bist doch eh immer da! Daß du nicht weg gehst, auch wenn du längst weg bist, das ist ein Tribut, den man deinen schlechten Manieren im Himmel zollen muß, denn zu den Mahlzeiten kommst du immer pünktlich, aber zu allem anderen auch. Schon eine Stunde davor stehst du bereit, geschneuzt und gekämmt, wie man früher gesagt hat, jetzt sagt man gar nichts mehr, Ausnahme: meine Mama, die sagt natürlich auch wieder so einiges, und damit geht sie gleich zum Chef persönlich, nein, es ist eher unnatürlich, bestenfalls übernatürlich, daß die dort noch Reden halten kann, sie befiehlt also sogar dem Herrn, egal wem, welcher halt grad dort ist und Dienst hat, hoffentlich nicht Allah, mit dem ist nicht zu spaßen, naja, sie spaßt ja auch nicht, sie meint das alles ernst, und sie sagt ihm also, was er zu tun hätte, wäre er an ihrer Stelle, die sie ihm aber niemals abtreten würde. Mama ist keine Konvertitin, denn sie würde nicht wissen wohin, in welche Richtung, das wäre ja auch unnötig, sie ist nämlich die, die immer da ist und nicht weggeht […] sie wartet immer, allzeit bereit, und wenn es Stunden dauert, und dann erwischt sie dich mit sich selbst, mehr hat sie nicht, mehr braucht sie nicht, vielleicht noch ein Einfamilienhaus für sich dazu, aber Hilfsmittel braucht sie ebenfalls nicht, sie ist jedes Mittel, das ihr recht ist, nur nicht Mittelmaß. Das ist ihr verhaßt.
Anrede an ihre (tote)
Mutter
sowie Charakterisierung von ihr, Mutmaßungen über deren Gegenwart in einem imaginierten Himmel; geschrieben für das 5. Wochenende der jungen Dramatiker
(29./30.9.2007)
an den
Münchner Kammerspielen.
Unter dem Motto „Nach Hause telefonieren“ verfassten AutorInnen, unter ihnen Jelinek, Texte, die am
29.9.2007
an verschiedenen Orten des Hauses präsentiert wurden. In einer Inszenierung von
Jorinde Dröse
interpretierte
Sandra Hüller
Jelineks Text.